Dafür, dass gerade Kinder und Jugendliche häufig in den Fokus der Betrachtungen zum Einfluss der Umwelt auf die Gesundheit gestellt werden, gibt es eine Reihe von guten Gründen:
- Embryonen, Feten und Kinder befinden sich in somatischer (körperlicher) und funktioneller Entwicklung. Entwicklungsprozesse sind in aller Regel störanfälliger als statische, ausdifferenzierte Systeme.
- Viele physiologische und metabolische Verhältnisse variieren altersabhängig. Das gilt insbesondere für die Neugeborenenzeit, in der die Metabolisierung ("Verstoffwechselung") und Ausscheidung von Stoffwechselprodukten, Medikamenten und Schadstoffen verlangsamt und mitunter auch beschleunigt sein können. Die Größenverhältnisse der Organe, Wasser-, Energieumsatz und Atmung sind, bezogen auf Körpergewicht oder Körperoberfläche, bei Kindern ganz anders als bei Erwachsenen.
- Verhalten und Exposition sind in der Kindheit anders als im späteren Lebensalter. Kinder sind körperlich aktiver, sie trinken und atmen - in Bezug auf das Körpergewicht - mehr als Erwachsene, sie halten sich öfter und länger draußen auf.
- Der Mensch steht am Ende einer langen Nahrungskette, während derer sich Schadstoffe und Rückstände, insbesondere langlebige lipophile (fettlösliche) Substanzen, im Fettgewebe und - für den gestillten Säugling besonders wichtig - in der Muttermilch anreichern können.
- Kinder haben zumeist eine lange Lebenszeit vor sich. Eine störungsfreie Entwicklung im Kindesalter ist eine gute Grundlage für die Gesundheit im Erwachsenenalter.
- Schließlich sind Allergien und insbesondere die Neurodermitis, für die neben der genetischen Disposition Umweltfaktoren (im weitesten Sinne) verantwortlich sind, bei Kindern besonders häufig.
Derartige Tatsachen rechtfertigen eine besondere Betrachtung hinsichtlich der Empfindlichkeit von Kindern und Jugendlichen gegenüber Umwelteinflüssen und der im toxikologischen Sinne besonderen Verhältnisse für die Pränatalzeit und das Säuglings- und Kleinkindesalter.
Anatomische und physiologische Besonderheiten
In den ersten Tagen nach der Empfängnis, bei den ersten Teilungszyklen der befruchteten Eizelle, gilt für schädigende Einflüsse weitgehend das "Alles- oder Nichts" - Gesetz. Ein nennenswerter Schaden führt zum Absterben der Eizelle.
In dem ersten Schwangerschaftsdrittel, während der Embryonalzeit, findet etwa vom 15. bis zum 40. Schwangerschaftstag die sogenannte Organogenese ("Organbildung") statt, während derer der sich entwickelnde Organismus hoch empfindlich ist. Hier laufen komplizierte Entwicklungsmechanismen ab, die in einem zeitlich und formal sehr enggesteckten Rahmen vor sich gehen. Bei Störungen kann es - je nach dem Zeitpunkt der Störung - zu sehr spezifischen Missbildungsmustern kommen.
In der nachfolgenden Fetalzeit kommt es bei schädigenden Einflüssen in der Regel nicht mehr zu Fehlbildungen, sondern zu Verlusten oder Störungen an Organsubstanz oder -strukturen.
Nach der Geburt und bis zum Alter von 4 Wochen bezeichnet man die Kinder als Neugeborene, bis zum vollendeten ersten Lebensjahr als Säuglinge, danach bis zum 6. Geburtstag als Kleinkinder und dann - unschärfer definiert - als Schulkinder und später als Jugendliche.
Nach der Geburt kommt es, insbesondere im ersten Lebensjahr, noch einmal zu einer sehr ausgeprägten Zunahme von Länge und Gewicht. In dieser Zeit sind funktionelle Entwicklungen und Lernprozesse die wichtigen und auch die störanfälligen Vorgänge. Vor allem darin ist die besondere Empfindlichkeit des kindlichen Organismus zu sehen. So sind beispielsweise Blei und Quecksilber für Kleinkinder neurotoxischer als für Erwachsene.
Ernährung, Atmung und Flüssigkeitsaufnahme unterscheiden sich bei jungen Kindern sehr wesentlich von dem, was für Jugendliche und Erwachsene gilt.
Bei vielen Überlegungen, die neben umweltmedizinischen auch toxikologische und pharmakokinetische Probleme betreffen, sind die Körperzusammensetzung und damit z.B. die Verteilungsvolumina bei Säuglingen und Kleinkindern zu berücksichtigen.
Metabolismus im frühen Lebensalter
Vor der Geburt werden die Entgiftungs- und Eliminationsprozesse aller plazentagängigen Stoffe von der Mutter übernommen. So sind beispielsweise auch bei vollständigem Fehlen der Nieren bei der Geburt die Kreatininwerte nicht erhöht.
Von Bedeutung in dieser Entwicklungsphase ist, dass es eine ganze Reihe von Stoffen gibt, die nicht nur plazentagängig sind, sondern die sich darüber hinaus in Plazenta und in Embryonen und Foeten so anreichern, dass dort die Konzentrationen höher sind als bei der Mutter. Das gilt beispielsweise für Quecksilber.
Bestimmte Parameter der Nierenfiltration sind in den ersten Lebenswochen geringer als im späteren Leben.
Enzyme für die so genannte Biotransformation stellen eine wichtige Komponente des in vielen Fällen artspezifischen Fremdstoffwechsels dar. Durch sie werden endogene und exogene Substanzen in ihrer Struktur so verändert, dass sie weiter verstoffwechselt, mitunter gegiftet und letztlich ausgeschieden werden können. Die Tatsache, dass Enzymsysteme nach der Geburt und in den ersten Lebenswochen und -monaten teilweise noch nicht ihre volle Aktivität haben, führt auf der einen Seite zu verlängerten Plasmahalbwertzeiten von Fremdstoffen, andererseits aber z.T. auch zu einer verlangsamten und verminderten Aktivierung ("Giftung") mancher toxischen Substanz.
Diese Zeitraster müssen bekannt sein, wenn man sich mit der Pharmakodynamik in diesem Lebensalter beschäftigt, und sie gelten weitgehend auch für die Metabolisierung von Umweltstoffen.
Nach den ersten Lebenswochen sind die meisten Eliminationsfunktionen nicht mehr langsamer als bei Erwachsenen, sondern sie laufen z.T. sogar beschleunigt ab. Das spiegelt sich wider in den empirisch erarbeiteten Dosierungsrichtlinien für viele Medikamente, die - auf Körpergewicht oder Körperoberfläche bezogen - bei Kindern häufig deutlich höher sind als bei Erwachsenen.